3. August 2020 – Zum Lesen
Anne Schneider und Martin Neubauer im Gespräch über Lieblings-Gedicht-Gebete
Anne Schneider: Gebete aus Dichtermund. Mich fasziniert es immer wieder wie Dichterinnen und Dichter es gelingt, Gebete zu verdichten und auf den Punkt zu bringen. Lieber Martin, gibt es für Dich, als quasi Fachmann in Sachen Dichtung, irgendwelche Lieblings-Gebet-Gedichte oder Gedicht-Gebete?
Martin Neubauer: Es gibt da eine ganze Flut und Fülle, ein wirklicher Schatz von Gebeten in Gedichtform. Er scheint mir oft noch ungeborgen und gar nicht entdeckt, welche Kraft darin steckt. Es gibt ganze Auswahlbände und im Grunde vom Mittelalter bis in die Gegenwart kann man da fündig werden.
Wenn ich ein mir besonders am Herzen liegendes Beispiel nennen darf, dann komm ich nicht um ein Gedicht herum, das ich in der Impuls-Reihe schon mal angesprochen habe, nämlich das Gebet von Eduard Mörike:
Herr, schicke, was du willt,
ein Liebes oder Leides;
Ich bin vergnügt, dass beides
aus deinen Händen quillt.
Wollest mit Freuden
und wollest mit Leiden
mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
liegt holdes Bescheiden.
Eduard Mörike (Evangelisches Gesangbuch S. 675)
Auf Anhieb erscheint das unglaublich unzeitgemäß, also wer bittet heutzutage um „holdes Bescheiden“? In einer Zeit, in der Selbstdarstellung so wichtig erscheint, Klappern anscheinend unvermeidlich zum Handwerk gehört. Aber wenn wir genauer hinschauen und hinhorchen, glaube ich, dass diese „holde Bescheiden“ genau das ist, was unsere Zeit bräuchte und was zutiefst zeitgemäß ist, nämlich das Sich-Zurücknehmen können für das Ganze und das als – etwas biedermeierisch vielleicht erscheint – „holdes Bescheiden“ zu empfinden also als etwas Positives, was uns beschenkt. Hinzu kommt, dass Eduard Mörike, der ohnehin ein meiner absoluten Lieblingsdichter ist, dieses Gedicht auch wunderbar von Hugo Wolf vertont wurde. Aber vielleicht sollten wir mal so unzeitgemäß sein und um holdes Bescheiden bitten und könnten dann staunen, wie das genau den Nerv der Zeit trifft.
Jetzt drehe ich mal die Frage um, frage Dich Anne, ob's für Dich ein besonders Lieblings-Gedicht-Gebet gibt?
Anne Schneider: Ja, da hast Du mich jetzt irgendwie erwischt, denn ich hab beim Nachdenken auch sofort an Eduard Mörike denken müssen. In unserem Gesangbuch, da sind ja einige Gedichte abgedruckt und das hat mich immer ganz besonders gefreut, dass es ein Mörike-Gedicht in unserem Gesangbuch gibt, das für mich ein bisschen abbildet, was für mich das Gebet auch ist. Das ich nämlich häufig im Beten erst einmal anfange meinem Herrgott irgendetwas zu erzählen oder überhaupt etwas zu beschreiben, nachzudenken, ganz allgemein – und dann nach einiger Zeit wende ich mich direkt Gott zu und spreche ihn an. Bei Mörike klingt das so:
In ihm sei’s begonnen
der Monde und Sonnen
an blauen Gezeiten
des Himmels bewegt!
Du, Vater, du rate,
lenke du und wende!
Herr, dir in die Hände
sei Anfang und Ende,
sei alles gelegt.
Eduard Mörike (Evangelisches Gesangbuch S. 793)
Martin Neubauer: Da wir jetzt beide, ohne es zu wissen, Mörike ausgewählt haben, vielleicht eine Empfehlung, wenn sich's mal ergibt: In der Nähe von Weinsberg liegt Cleversulzbach und wenn man sich diesen Ort anschaut, es ist wirklich ein sehr kleiner Ort, in dem wenig äußerliches geboten ist, eine winzige Kirche. Und wenn man sieht dass Eduard Mörike dort Pfarrer war und dort so unvergängliche Verse geschrieben hat, dann ist auch das eine Übung in „holdem Bescheiden“.
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